Befragung zu Gemeindeversammlungen: Geschenke mobilisieren niemanden zur Teilnahme – im Gegenteil

(Aarau)(PPS) Geschenke befremden diejenigen, die sich bereits an Gemeindeversammlungen beteiligen. Demnach sind sie als Fördermassnahme für die lokale direkte Demokratie ungeeignet. Kontraproduktiv ist es auch, wenn Vereine ihre Mitglieder zur Teilnahme auffordern. Diese und weitere überraschende Befunde zeigt die erste repräsentative Befragung von Stimmberechtigten zur Beteiligung an Gemeindeversammlungen in der Schweiz. Durchgeführt wurde sie vom Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) in der Gemeinde Richterswil (ZH).

In der Schweiz nehmen gemäss Gemeindeschreiberbefragung von 2009 durchschnittlich 9.7 Prozent der Stimmberechtigten an Gemeindeversammlungen teil. Die Tendenz ist seit Jahren sinkend, was immer wieder die Frage aufwirft, ob die Gemeindeversammlung als demokratische Institution heutzutage überhaupt noch angemessen ist. Eine kleine Minderheit entscheidet für die gesamte Gemeinde. Braucht es nicht ein zeitgemässeres Verfahren, zum Beispiel in Form eines Gemeindeparlaments?

Nein, findet die Mehrheit der Richterswiler Stimmberechtigten. Nur 25 Prozent der Befragten, die regelmässig an Gemeindeversammlungen teilnehmen, und nur 30 Prozent derjenigen, die praktisch nie an Gemeindeversammlungen teilnehmen, sprechen sich für ein Gemeindeparla-ment aus. Die Befragung in Richterswil wurde im Frühjahr 2016 im Rahmen einer Masterarbeit in Politikwissenschaft durchgeführt und von insgesamt 1638 Stimmberechtigten beantwortet. Dies entspricht einer Rücklaufquote von rund 33 Prozent.
Alle sozialen Schichten vertreten Die Richterswilerinnen und Richterswiler sind zufrieden mit der kommunalen Demokratie und haben grosses Vertrauen in die Gemeindebehörden – unabhängig davon, ob sie Gemeindeversammlungen besuchen oder nicht. Teilnehmende Stimmberechtigte sind im Vergleich zu den Versammlungsabstinenten im Durchschnitt älter, wohnen seit längerer Zeit in der Gemeinde und gehen auch häufiger an die Urne. Hingegen unterscheiden sie sich in Bezug auf Geschlecht, Ausbildung, Einkommen und politischen Positionen nicht signifikant von der restlichen Stimmbevölkerung.

Lieber gedruckte Information als Video
Entscheidend für die Teilnahme sind die behandelten Themen, die Länge der Versammlung und der Wochentag – gegen Ende der Woche sinkt die Bereitschaft rapide, sich im Rahmen einer Versammlung mit politischen Geschäften auseinanderzusetzen. Das gedruckte Weisungsheft mit Erläuterungen zu den Vorlagen wird mehrheitlich geschätzt. Ein Ersatz des Heftes durch eine Online-Publikation oder durch ein Youtube-Video würde auf wenig Gegenliebe stossen.

Schliesslich motivieren Geschenke die Nicht-Teilnehmenden nicht zu einem Versammlungs-besuch. Auf bereits Teilnehmende wirken sie sogar befremdlich. Von dieser Massnahme, auf die verschiedene Gemeinden zur Steigerung der Teilnahme bereits setzen, ist also abzusehen. Nicht-Teilnehmende sehen sich am ehesten durch eine ihnen nahestehende Person zur Teilnahme veranlasst, während bereits Teilnehmende die Versammlungen vor allem aus eigenem Antrieb besuchen. Auf ihre Motivation wirkt sich ein Aufruf durch einen Verein negativ aus.

Gemeindepolitik als Anschauungsbeispiel im Unterricht
Welche Möglichkeiten gibt es nun, um Bürgerinnen und Bürger im Allgemeinen und die jüngeren Personen im Speziellen dazu zu bewegen, sich wieder aktiver in die Gemeindepolitik einzubringen? Die Studie zeigt, dass die Möglichkeiten bei der Ausgestaltung der Versamm-lung begrenzt sind. Die Vermittlung notwendigen Wissens zur Entscheidungsfindung und lebhafte politische Debatten sind wirksamer als Aktionismus in Form von Videofilmen oder die Verteilung von Give-aways. Aber die Gemeindepolitik könnte im Rahmen der politischen Bildung als Anschauungsbeispiel in den Unterricht eingebaut werden, zum Beispiel in Kooperation mit den Gemeindebehörden oder lokalen politischen Akteuren und Schülerbesuchen an Gemeindeversammlungen. Darüber hinaus liegt es in der Hand der Gemeindebehörden und der politischen Akteure wie Parteien, Verbände und Vereine, bei den Bürgerinnen und Bürgern Interesse an der Gemeindepolitik zu wecken und ihnen die Entscheidungsoptionen so zu erklären, dass sie diese auch verstehen und sich dazu eine Meinung bilden können.

Das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) ist ein Forschungszentrum der Universität Zürich und der Fachhochschule Nordwestschweiz mit Sitz in Aarau. zdaarau.ch

Die Befragung:
Haus, Alexander; Rochat, Philippe E.; Kübler, Daniel (2016): „Die Beteiligung an Gemeindeversammlungen. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von Stimmberechtigten in der Gemeinde Richterswil“, Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau, Nr. 8 (September 2016).
 

Pressekontakt: 

Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA)
Villa Blumenhalde
Küttigerstrasse 21
5000 Aarau

Tel:  062 836 94 44
Fax: 062 836 94 45

zdaarau.ch
facebook.com/zdaarau